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Rassismus

Dein Rassismus, mein Rassismus

Gedanken, Erfahrungen und ein Bekenntnis

Du bist weiß und dünn. Schreib lieber über Sexismus und Rassismus!“ So ähnlich lautet ein Kommentar unter meinem Tweet zum Thema Skinny Shaming. Mit einer solchen Reaktion hätte ich nicht gerechnet …

Du bist weiß und dünn. Schreib lieber über Sexismus und Rassismus!“

Ihrem Profilfoto nach schätze ich die Verfasserin als Asiatin ein. Was hat sie wohl erleben müssen, dass sie „so jemanden wie mich“ als Sprachrohr „braucht“? Oder mich zumindest dazu auffordert? Und qualifiziert mich mein Erscheinungsbild etwa automatisch dazu, um über diese beiden Themen zu schreiben? Oder „beruft“ es mich gar?

Über sexuelle Belästigung und Missbrauch habe ich tatsächlich bereits einiges verfasst. Dem Thema Rassismus bin ich bis jetzt jedoch deutlich zurückhaltender gegenüber gewesen. Gerade weil Rassismus so hochaktuell und wichtig ist, hatten sich sämtliche Kanäle dazu bereits ausgiebig geäußert. Mit welcher neuen Information oder Erkenntnis hätte ich um die Ecke kommen können: Mit der Binsenweisheit, dass Rassismus sinnfrei und böse ist? Auch auf persönliche Erfahrung konnte ich nicht zurückgreifen – weder als Opfer noch als Täter. Da war ich mir bis dato ganz sicher …

Rassismus im Baumarkt und in der Kosmetikschule

Vor paar Wochen bekam ich eine Nachricht von einer Bekannten. Wiederum ihre Bekannte, eine russische Frau, wurde in einem Baumarkt beschimpft und ausgelacht. Der Grund dafür war ihr russischer Akzent; der Täter ein Mitarbeiter. Weitere Mitarbeiter standen mit etwas Abstand daneben und haben nicht helfend eingegriffen – ganz im Gegenteil: Sie lachten die Kundin sogar noch mit aus …

Diese demütigende Erfahrung wollte die Frau nun publik machen. Vielleicht mit meiner Hilfe? Also rief ich sie an und es wurde zu einem langen Gespräch: Mit Anfang Zwanzig ist die gebürtige Russin nach Deutschland gekommen und hat eine Ausbildung zur Kosmetikerin angefangen. In der Kosmetikschule wurde sie von Anfang an aufs Schlimmste gemobbt. „Geh wieder dorthin zurück, wo du herkommst!“, hieß es ständig von den anderen Azubis. Selbst Ihre Ausbilderin hat ihr immer wieder versichert, dass „so jemand wie sie“ es niemals schaffen würde, in Deutschland Fuß zu fassen. Die junge Russin konnte sich nicht wehren. Sie hatte damals weder den Mut noch die Sprachkenntnisse dazu. Also hielt sie ihrem Mund und fraß ihren Frust immer weiter in sich hinein. Nur unter emotionalem Stress und unter Tränen konnte sie Ihre Ausbildung abschließen.

Über 20 Jahre später führt sie ein eigenes erfolgreiches Kosmetikstudio. Und auf mich wirkt sie alles andere als auf den Mund gefallen! Doch in diesem Moment im Baumarkt, da kamen ihr die traumatischen Erinnerungen aus ihre Ausbildungszeit wieder hoch: die bösen Worte, das herablassende Gelächter. Sie wurde plötzlich wieder zu der ängstlichen Frau von damals. Zu jemandem, der sich nicht traut, sich zu wehren.

Einige Tage nach dem Vorfall bekam die Kosmetikerin dann einen Anruf vom Filialleiter. Der Mitarbeiter, der sie so angepöbelt hatte, stellte sich als Kunde heraus. Dass die anderen Mitarbeiter nicht eingeschritten sind, sei dem Filialleiter jedoch äußerst unangenehm. Summa summarum: Die gebürtige Russin sieht nun keinen Grund mehr diesen Vorfall öffentlich zu machen. Mich hat ihre Geschichte nun aber definitiv dazu inspiriert, über Rassismus zu schreiben.

Rassismus im Aufzug

Ich bin darüber verwundert, wie viel Rassismus die Kosmetikerin erfahren musste. Als Tochter einer russischen Mutter und eines russlanddeutschen Vaters kann ich mich nur an einen einzigen Vorfall erinnern, bei dem ich einen Hauch von Rassismus erlebt habe. Diese Erinnerung kam mir erst beim Telefonat mit der russischen Frau wieder: Ich war etwa 10 Jahre alt und war gerade damit beschäftigt, einen Zettel an die Aufzugwand zu befestigen. Es ging um das Thema Tierschutz. Eine Nachbarin, eine ältere deutsche Frau, stieg auf einer anderen Etage in den Aufzug dazu. Sie sah den Zettel und riss ihn meckernd wieder herunter. Ich war irritiert und wollte wissen, wieso sie das tat. „Hier gehören keine Zettel hin!“, meinte sie schroff. „Aber meine Mama hat es mir erlaubt!“, erwiderte ich ihr trotzig. „Deine Mutter hat hier gar nichts zu melden!“, zischte sie.

Ich wusste nicht, was dieser letzte Satz zu bedeuten hatte. Wieso sollte denn meine Mutter nichts zu sagen haben in dem Haus, in dem wir wohnen? Aufgeregt erzählte ich davon der Mutter einer Freundin, ebenfalls eine Nachbarin. Sie schaute ganz betroffen und erklärte mir den Grund für das Verhalten der Frau im Aufzug. Mir wurde ganz anders …

Rassismus bis zum letzten Atemzug

Doch das ist natürlich eine winzige Kleinigkeit im Gegensatz zu dem, was George Floyd im Mai 2020 zugestoßen ist. Ich bin immer noch zutiefst betroffen darüber, wie das Leben dieses Mannes enden „musste“. Am meisten schockiert es mich, dass der Grund ein systematischer Rassismus war, der so tief in den USA verankert ist, dass er von den eigentlich „Guten“ ausging. Von der Polizei, deren Aufgabe es ist, Menschenleben zu schützen. Dass er mit einem gefälschten Geldschein bezahlt haben soll, relativiert die Tat für mich in keiner Form. Hätten die Polizisten ihn auch ermordet, wenn er weiß gewesen wäre? Das bezweifle ich sehr. Genauso so sehr bezweifle ich, dass George Floyd tatsächlich versucht hatte, mit einem gefälschten Schein zu bezahlen – zumindest nicht mit Absicht. Das passte einfach nicht zu seiner Persönlichkeit.

Ja, Floyd saß schon mal im Gefängnis, hatte dementsprechend auch eine kriminelle Vergangenheit. Hinter Gittern ist er aber auch zum Christentum konvertiert und hat seither einen ganz anderen Weg eingeschlagen: Er engagierte sich zum Beispiel unter jungen Menschen im „Third Ward“, einem traditionell von Afroamerikanern bewohnten Stadtteil in Houston Texas. Dort war er als „Big Floyd“ gleichermaßen bekannt, beliebt und einflussreich. Das Ziel seiner Arbeit war es, den Kreislauf der Gewalt zwischen den Straßenbanden durchbrechen. Floyd sprach zu den Gangmitgliedern über Glaube, Liebe und Vergebung und riskierte damit etliche Male sein eigenes Leben. Viele junge Männer bezeichneten ihn als ihren Onkel, Bruder oder sogar Vater. Floyd half auch bei der Essensverteilung seiner Gemeinde mit, machte Krankentransporte und unterstützte ein Projekt für Häuserbau im Armenviertel. Klingt das nach jemanden, der mit Falschgeld bezahlen würde? Ich denke nicht.

Doch Floyds gute Taten sind für mich nicht der entscheidende Grund dafür, wieso sein Tod eine solche Tragödie ist. Selbst dann, wenn er immer noch ein Kleinkrimineller gewesen wäre, wäre dieser Fall gleichermaßen fürchterlich gewesen. Niemand muss sich das Leben erst einmal verdienen. Weder durch gute Taten; noch mit einer bestimmten Hautfarbe. Das sahen wohl die Protestteilnehmer in den Vereinigten Staaten und in Europa wohl genauso …

Meine Reaktion auf Rassismus gegen Schwarze

Ich muss gestehen, dass ich bei keiner Black Lives Matter-Demo war. Wieso? Wahrscheinlich, weil das gerade nicht so sehr in meinen Alltag hineinpasste. Ich hätte dafür meine täglichen Verpflichtungen unterbrechen müssen; ein Opfer bringen müssen. Und überhaupt: Was hätte ich da schon als Einzelperson ausrichten können? Gegen den Tod von George Floyd, die Polizeigewalt in den Staaten und den Rassismus auf der ganzen Welt? Hören sich diese Argumente nach Ausreden an? Ja. Sind sie welche? Ebenfalls ja.

Ausgerechnet durch die zahlreichen Beiträge auf Social Media wurde mir bewusst, weshalb ich mir eine solche Einstellung „leisten“ konnte: Einfach, weil ich nicht schwarz bin. Das ist der Grund dafür, warum mein Leben nicht jeden Tag aufs Neue in Gefahr ist. Ich muss auch nicht doppelt und dreifach für meine Möglichkeiten und Rechte kämpfen. Ich habe das, was man White Privilege nennt. Das war mir vorher nicht bewusst. Und doch ist es so offensichtlich: Schwarze müssen deutlich mehr für ihre Rechte und nicht selten auch um ihr eigenes Leben kämpfen. Dabei haben sie sich ihre Hautfarbe nicht ausgesucht. Sie sich auch nicht aussuchen können. Ehrlich gesagt, verstehe ich auch nicht, was an einem dunklen Hautton falsch sein soll?

Als 90er-Jahre Kind bin ich mit „Black Music“ aufgewachsen. In meiner Jugend waren Schwarze für mich automatisch cool: Sie können singen, tanzen, rappen und sind stets immer gut gekleidet – davon war ich überzeugt und ganz angetan. In meinen frühen 20ern habe ich Halbafrikaner gedatet und es gab sogar eine Phase, in der ich selbst lieber schwarz sein wollte. Aufgrund meiner durchwegs positiven Einstellung gegenüber Schwarzen habe ich den bestehenden Rassismus völlig unterschätzt. Es kam mir einfach nicht in den Sinn, dass andere Menschen ernsthaft großartig anders denken könnten als ich. Trotz der häufigen Meldungen über Rassismus in den Medien! Was für ein naives Denken!

Black Lives Matter – und die anderen?

Ein anderer Grund warum ich das Ausmaß des Rassismus gegen Schwarze unterschätzt habe ist, weil dieser in Deutschland deutlich schwächer ausgeprägt ist als in den Vereinigten Staaten. Ich behaupte nicht, dass es ihn hier nicht geben würde, aber: Die rassistisch-motivierte Polizeigewalt in den USA ist ein alltägliches Problem. In Deutschland eher nicht. Allerdings ist es auch hier wahrscheinlicher, dass dich die Polizei anhält oder verdächtigt, wenn du nicht gerade „deutsch“ aussiehst. Was in den USA die Afroamerikaner sind, sind in Deutschland beispielsweise die Türken, die Araber, die Albaner, die Syrer, die Sinti und Roma. Vielleicht auch die Russen und Polen – unabhängig von ihrer Hautfarbe.

Hier komme ich ins Spiel: Wie behandele ich „Ausländer“? Schenke ich ihnen das gleiche Vertrauen wie Einheimischen? Ich muss gestehen, dass ich abends wegen einem Mann mit dunklem Hautton eher die Straßenseite wechseln würde als bei einem Hellhäutigen. Größere Anschaffungen mache ich auch lieber bei „echten“ Deutschen als bei einem südländischen oder orientalischen Verkäufer. Ist es bereits Rassismus, wenn ich glaube, dass Ehrlichkeit und Vertrauenswürdigkeit eines Menschen nicht nur von seiner individuellen Persönlichkeit abhängt, sondern auch kulturell bedingt sein kann?

Auf Missstände in anderen Ländern hinzuweisen, die eindeutig gegen grundlegende Menschenrechte verstoßen, sollte mehr als nur erlaubt sein! Die Kinderheirat in einigen islamischen Ländern ist eben einfach nur abscheulich und ich muss auch nicht die Mädchenbeschneidung in Senegal oder Somalia gutheißen.

Kulturelle Unterschiede existieren. Das ist Fakt. Sich dessen bewusst zu sein, ist meiner Meinung nach deshalb auch keine Fremdenfeindlichkeit. Oder vielleicht doch? Doch wie sieht es eigentlich mit ethnisch-spezifischen Komplimenten aus?

Rassismus ist kein Kompliment

Paradoxerweise können auch wohlgemeinte Komplimente rassistisch sein, wenn sie sich einem Vorurteil bedienen: „Alle Chinesen sind schlau und alle Schwarzen können gut tanzen.“ Laut dieser „Komplimente“ ist es nichts Besonderes mehr, als Chinese intelligent zu sein oder als Schwarzer ein gutes Rhythmusgefühl zu haben. Solche Pauschalaussagen entwerten die Talente einzelner Angehöriger einer bestimmten ethnischen Gruppe und die Arbeit, die hinter ihrem Können steckt.

Außerdem: Was ist eigentlich mit Schwarzen, die nicht tanzen können? Sind sie dann überhaupt noch wirklich schwarz? Und wie sieht es mit Asiaten mit einem durchschnittlichen IQ aus? Ich kann mir gut vorstellen, dass sich manche durch solche klischeehaften Aussagen in ihrer Zugehörigkeit “bedroht” fühlen.

Aber wer kann sich dann noch von Rassismus freisprechen, wenn dessen Definition sogar manche wohlgemeinte Komplimente mit einschließt?

Keine Synonyme: Rassismus und Fremdenfeindlichkeit

Im Laufe meines Lebens habe ich eine Abneigung gegen Russen entwickelt. Schon als Kind schämte ich mich für meine russische Herkunft. Besonders peinlich fand ich die Sprache. Also habe ich bewusst aufgehört, Russisch zu sprechen. Wenn mit mir jemand Russisch sprach, habe ich auf Deutsch geantwortet. Ich wehrte mich auch immens dagegen, die kyrillische Schrift zu lernen. Während meiner Studienzeit hatte sich dann bereits folgendes Bild über Russen in meinen Kopf gesetzt: Russen sind primitive, fluchende Assis, die ihre Abende in der Hocke auf dem Parkplatz verbringen. Um sie herum sind überall Schalen von Sonnenblumenkernen verstreut. Anstatt sie wegzuräumen, spucken sie immer mehr davon auf den Boden. Sie besaufen sich bis zum Erbrechen mit Wodka und pöbeln Vorbeigehende an. Und später gehen sie in die Russen-Disco, um weiterzusaufen und sich gegenseitig die Köpfe blutig zu schlagen.

Wow! Ich muss mehrmals schlucken, während ich diesen Abschnitt schreibe. So viel zu meiner Aussage, dass ich keine Erfahrung mit Rassismus habe! Selbst wenn ich selbst Halbrussin bin, nicht zur Gewalt neige und es nicht meine Art ist, Leute zu beschimpfen: Diese Gedanken sind purer Rassismus! Und damit so unfassbar falsch!

Das Schreiben dieses Beitrags hat mir dafür die Augen geöffnet, dass Rassismus nicht immer gleich Fremdenfeindlichkeit sein muss. Manchmal ist es auch Rassismus gegen das eigene Volk. So wie bei mir.

Kulturschock und Rassismus

Jetzt im Nachhinein denke ich, dass meine Einstellung zum Teil eine Schutz- oder Trotzreaktion gegenüber einer nahen Verwandten gewesen ist: Als sie vor 27 Jahren nach Deutschland kam, musste sie geliebte Familienmitglieder, Freunde und Job in ihrer Heimat zurücklassen. Das Deutschlernen fiel ihr äußerst schwer, aber am schwierigsten war für sie die kulturelle Umstellung gewesen. So entwickelte sie einen Hass gegen Deutsche, den sie ungefragt ständig und lauthals kommentierte. Ich dagegen fühlte mich von Anfang an zu Hause in Deutschland und konnte sie kein bisschen verstehen. Ihre Feindseligkeit macht(e) mich einfach nur wütend!

Erst im jungen Erwachsenenalter habe ich verstanden, dass meine Verwandte einen Kulturschock hatte – einem schockartigen Gefühlszustand, in den Menschen verfallen können, wenn sie auf eine fremde Kultur treffen. Die besagte Person hat bewusst an den eigenkulturellen, russischen Werten und Denkmuster festgehalten und die neue, deutsche Kultur abgelehnt. Segregation ist der Fachausdruck dafür. Plötzlich konnte ich sie ein Stückchen weit verstehen. Trotzdem waren ihre ständigen Nörgeleien und verallgemeinernden Beleidigungen sehr belastend für mich. Ich wollte auf keinen Fall so werden wie sie und bin es dann doch! Nur waren für mich die Russen eben die „Bösen“.

Übrigens ist meine Reaktion auf das Auswandern nach Deutschland im Grunde gar nicht mal so unüblich. Zumindest mal in seinen Grundzügen: Meine Art mit der neuen deutschen Kultur umzugehen wird als Assimilation bezeichnet. Bei dieser Anpassungsstrategie wird die Eigenkultur aufgegeben oder sogar abgelehnt. Ich habe sie abgelehnt.

Sowohl meine Verwandte als auch ich haben mit unseren jeweiligen Reaktionen auf unser neues Umfeld offensichtlich übertrieben …

Das Ende meines Rassismus?

Erst in den letzten Jahren habe ich immer mehr begriffen, dass ich kein Recht darauf hatte und habe, so über Russen zu denken. Die paar negative Beispiele, die ich erlebt habe, legitimieren meine rassistische Denkweise nicht.

Ich bin dankbar dafür, dass mir das Thema Rassismus „ans Herz gelegt“ worden ist. Denn ohne das hätte es keine Selbstreflexion für mich gegeben – zumindest noch nicht. Mir wäre nicht bewusst geworden, dass es auch in meinem Leben Platz für Rassismus gab und vielleicht auch noch zum Teil gibt. Denn: Rassismus beginnt nicht erst mit Gewalt, Ausgrenzung oder bösen Worte. Rassismus beginnt in unseren Gedanken. Ich weiß, woran ich jetzt arbeiten kann – an meinem Mindset! Und damit fange ich jetzt an. Wo liegt deine Baustelle?

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Sexuelle Gewalt und Belästigung

Die Bushaltestelle

Auch hier geschieht es

Nach der Schule begleitete mich meine Klassenfreundin Lara zur Bushaltestelle. Dass wir gleich sexuelle Belästigung erleben würden, das ahnten wir nicht. Wir besuchten gerade die sechste Klasse. Vielleicht auch die Siebte. Ich erinnere mich nicht genau. Wir waren brave, schüchterne Mädchen. Richtige Spätzünder. Allein schon der Gedanke daran, mit einem Jungen sprechen zu müssen, machte mir damals Angst.

Die Bushaltestelle hatte mehrere Anfahrtsspuren und pro Anfahrtsspur noch mal drei Haltepunkte. Außer uns beiden war sonst gerade niemand da. Verwunderlich. Er war ein heißer Sommertag. Ein zarter, angenehm-kühler Wind streichelte unsere Haut. Wir hatten Gänsehaut und gute Laune. Die brauchten wir auch, denn wir hatten noch einiges an Wartezeit vor uns

Sexuelle Belästigung an Bushaltestelle
Sexuelle Belästigung an Bushaltestelle
Er kratze sich und starrte uns dabei lüstern an

Wenige Minuten später setzte sich ein älterer Mann auf eine Bank, die einige Meter rechts von uns stand. Ich schätzte ihn damals auf 65 Jahre. Er schaute uns an. Aus diesem Anschauen wurde bald ein unangenehmes Starren. Dann fing er an, sich langsam an seinem Oberschenkel zu kratzen. Dieses Kratzen wurde immer heftiger und sein Anstarren immer intensiver. Das Kratzen ging über in eine ruckartige Auf- und Abbewegung seiner Hand …

Obwohl ich das Ganze in meiner Unschuld zuerst nicht richtig einordnen konnte und irritiert war, fühlte ich vor allem drei Dinge: Scham, Ekel und Ohnmacht. Ich wusste, das hier irgendwas gewaltig falsch lief. Als ich dann endlich durchgeblickt haben, was es war, kam in mir eine große Wut auf. Dass nicht nur ich wütend war, merkte ich daran, dass Lara den Mann plötzlich anschrie, dass er sofort aufhören soll. Ich schrie mit. Doch er hörte nicht auf. Unsere Reaktion schien ihn noch mehr Lust zu bereiten. Als wir ihm schließlich mit der Polizei drohten, stand er schreckhaft auf und humpelte davon …

Das Danach

Die Polizei gerufen haben wir damals nicht. Wir waren einfach nur froh, dass er weg war. Dass der Mann wahrscheinlich öfters vor Frauen, Jugendlichen oder Kindern masturbierte oder vielleicht noch Schlimmeres, daran haben wir damals nicht gedacht. Wir wussten auch nicht, dass der Vorfall eine Tat darstellte, wegen der man die Polizei hätte rufen können. Und selbst wenn wir das alles gewusst und bedacht hätten, hätten wir es wahrscheinlich trotzdem nicht getan. Es wäre uns einfach zu peinlich gewesen, darüber zu sprechen.

Gleichzeitig fanden wir, dass das, was da geschehen war, zwar sehr unangenehm aber doch irgendwie harmlos war. Schließlich ist uns ja nichts Weiteres passiert. Lara und ich sprachen nie wieder darüber miteinander. Damals war ich ein Teenager. Heute bin ich eine erwachsene Frau und diese Erfahrung hat sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt.

Ich erzählte es 300 Leuten

Zum ersten Mal habe ich von dieser einprägsamen Erfahrung wieder auf der Bühne bei einem Theaterprojekt erzählt – vor mehr als 300 Zuschauern. Das Stück bestand aus mehreren (auto)biografischen Geschichten zum Thema Frausein. Die Erzählerinnen vor mir bekamen nach ihren Auftritten tosenden Applaus. Mein Auftritt hinterließ jedoch eine unangenehme Stille. Ich war verwundert und enttäuscht. Ist mir mein Auftritt etwa nicht gelungen? Konnte man mich nicht richtig verstehen oder war nicht ganz klar gewesen, wann das Ende meines Auftritts war? 

Nach der Aufführung kamen jedoch Frauen zu mir, die tief berührt waren von meiner Geschichte. Frauen mit Tränen im Gesicht. Frauen, die ähnliches oder auch viel Schlimmeres erlebt haben. Sie bedankten sich bei mir. Die Regisseurin erzählten mir später, dass ihre männlichen Freunde, die im Publikum saßen, es als höchst unangenehm empfanden, sich meine Geschichten anzuhören. Ich hatte von mehreren Erlebnissen erzählt und die Freunde der Regisseurin schämten sich für das Verhalten ihrer Geschlechtsgenossen. Ich merkte, dass das, was ich erlebt habe, vielleicht doch gar nicht so eine harmlose war.

Sexuelle Belästigung: ein Teil der Gesellschaft

Als Kind, Jugendliche oder Erwachsene – ständig sind mir solche „Kleinigkeiten“ passiert, die eigentlich keine Kleinigkeiten waren: Von anzüglichen oder abwertenden Sprüchen gegenüber meinen Körper,  über “Liebesnachrichten” in den sozialen Medien bis zum öffentlichen Begrapscht-Werden als Kellnerin in einer Bar. 

Das Erschreckende daran ist, dass meine Erfahrungswelt keine Ausnahme, sondern die Regel ist. Die meisten Betroffenen erleben weitaus Schlimmeres als ich. In Deutschland wird laut Schätzungen durchschnittlich jedes 4. Mädchen und jeder 8. Junge sexuell missbraucht. Die sexuellen Übergriffe auf Erwachsene werden hier nicht mitgezählt. Jeder Missbrauch hinterlässt lebenslange Spuren – meistens eine posttraumatische Belastungsstörung. Ich habe mal ein YouTube-Video gesehen, in dem eine ältere Dame gefragt wurde, was für sie das Schlimmste im Zweiten Weltkrieg war. Sie erzählte von ihrer Vergewaltigung durch einen Soldaten, der ihr währenddessen eine Pistole an die Schläfe hielt. Den tiefen, seelischen Schmerz der Frau konnte ich durch den Bildschirm spüren. Von den Schicksalen aus dem Menschenhandel, der Zwangsprostitution und Kinderpornografie möchte ich an dieser Stelle erst gar nicht anfangen …

Gerade weil es so viele so schreckliche Fälle von sexueller Gewalt gibt und sexuelle Belästigung alltäglich vorkommt, nehmen wir das Zweite fast als normal hin. Doch es sollte – nein dürfte nicht! –  einfach als Teil der Gesellschaft akzeptiert werden.

Was kann man tun?

Ich suche immer noch nach einer Lösung für dieses Problem. Fehlt es da etwa an Aufklärung? Natürlich war die MeToo-Bewegung, die im Oktober 2017 durch den Weinstein-Skandal ausgelöst worden ist, ein guter Schritt in die richtige Richtung. Doch zum erhofften Ziel hat es uns nicht geführt, denn sonst wäre ja nicht ein Fernsehbeitrag wie Männerwelten notwendig gewesen.

Eine strikte Gesetzgebung wäre sicherlich nicht daneben. Doch diese hat meistens keinen allzu großen präventiven Wert auf sexuelle Belästigung und Gewalt. Ein wichtiger Faktor ist sicherlich auch eine Erziehung, die aufzeigt, dass man die Grenzen anderer zu akzeptieren, zu respektieren und zu wahren hat. Und auch, dass man seine eigenen Grenzen vor anderen deutlich definieren und schützen darf.

Letztendlich muss jeder für sich selbst entscheiden, einfach mal niemanden zu belästigen. Doch wie kriegen wir diese Einstellung in die Köpfe und Herzen aller?