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Kurzgeschichte

Maries Geheimnis

Eine Kurzgeschichte

Maries Geheimnis – eine Kurzgeschichte
Bild von Clarisse Meyer
Marie

Dunkle Augen, breite Schultern und ein strahlend weißes Lächeln: Marie erwischt sich selbst dabei, wie sie Henri bewundert, als er den Flur betritt. Diese Schwärmerei muss sofort aufhören! Mit jedem Schritt, den sie auf Henri zugeht, wird sie nervöser.

Wie wird er wohl reagieren, wenn sie ihn gleich damit konfrontiert? Ihm klarmacht, dass sie sein unverantwortliches Verhalten nicht mehr dulden will? Nicht mehr dulden kann! Wird dieses Gespräch ihren Job gefährden oder gar ihre Beziehungen in Mitleidenschaft ziehen? Nein, dafür müsste er ja … und das würde er sich doch sicherlich nicht trauen, oder?

„Kann ich dich bitte mal kurz sprechen, Henri?“. Marie versucht entschlossen rüberzukommen, doch Henri grinst sie sofort schelmisch an. Hat er etwa ihre Nervosität bemerkt? So schnell? „Wo drückt denn der Schuh, Marie? Dein Lippenstift steht dir übrigens ausgezeichnet! Wie findest du eigentlich meine neue Fliege?“. Henri richtet seine Fliege und strahlt dabei übers ganze Gesicht. „Ähm, danke. Deine Fliege, äh, ja … Die ist …“, stammelt Marie. Dann sammelt sie sich wieder ein wenig und meint nun deutlich energischer: „Henri, ich muss jetzt wirklich über was Ernstes mit dir sprechen! Und zwar unter zwei Augen!“ – „Da muss aber jeder von uns ein Auge zudrücken. Oder einer von uns gleich beide?“ scherzt Henri. „Was?“, fragt Marie verwirrt. Henri erklärt: „Du hast dich versprochen. Du hast „unter zwei Augen“ gesagt. Mache ich dich etwa so nervös?“ Marie reicht es. Sie wird lauter: „Genau darum geht es: Ich will nicht wieder ein Auge zudrücken müssen!“ Zwei Kolleginnen, die sich gerade zufällig auf dem Flur befinden, drehen sich neugierig zu ihnen, tuscheln dann miteinander. „Ich denke, wir unterhalten uns besser in meinem Büro weiter“, erwidert Henri ernst. Er wirkt etwas geschockt von Maries Tonlage. Ihr ist das nur recht.

Kaum ist die Bürotür zu, platzt es wieder aus Marie heraus: „Ich weiß von dir und Lisa!” Henri wendet ruckartig seinen Blick zum Boden. „Meine Schwester“, fügt Marie im scharfen Ton hinzu, „ist seit 13 Jahren glücklich verheiratet! Willst du etwa ihre Ehe ruinieren? Sie und Marc haben drei kleine Kinder zusammen! Hast du denn gar kein Gewissen?“. Henri fummelt nervös an seiner Fliege herum, schaut dann Marie betroffen an. Marie redet weiter auf ihn ein: „Henri, ich flehe dich: Bitte beende diese Affäre. Oder willst du wirklich so weiter machen in deinem Leben? Dich an jede Frau heranmachen, die bei drei nicht auf dem Baum ist? Ganz gleich, ob dabei sogar Familien kaputtgehen?“ Stille. Die beiden stehen sich gegenüber und schauen sich tief in die Augen. Marie weiß, dass das, was sie da eben gesagt hat, sie in große Schwierigkeiten bringen kann. Und doch ist sie sich sicher, das einzig Richtige getan zu haben.

„Ich weiß nicht, ob du so mit deinem Chef sprechen solltest! Außerdem: Lisa ist erwachsen und so glücklich kann sie ja mit Marc nicht sein, wenn sie …“ Marie unterbricht: „Lisa hat letztes Jahr ein Baby verloren. Sie ist völlig verwirrt vor lauter Trauer und du nutzt das hemmungslos aus!“ – „Baby verloren? Das wusste ich nicht“, antwortet Henri betroffen. „Jetzt weißt du es ja es und kannst die Finger von ihr lassen!“, entgegnet ihm Marie. „Von wem ich die Finger lasse oder nicht, das ist immer noch meine Sache. Aber hey, Marie, ich tue dir diesen Gefallen“, erwidert Henri. „Was? Was soll das heißen?“, fragt Marie misstrauisch. „Das soll heißen, dass ich Linda gleich anrufe und die Affäre mit ihr beende.“ Marie hackt noch mal nach: „Wie, einfach so?“ – „Ja einfach so. Ich möchte nämlich nicht, dass diese Sache zwischen uns beiden steht. Ich möchte Lars auch weiterhin als einen meiner besten Freunde behalten. Und dich schätze ich auch sehr, Marie“, meint Henri versöhnlich. „So als Mensch meine ich“, fügt er noch schnell hinzu.

Henris letzte Aussage triggert Marie: „Du sagst, du schätzt mich als Mensch? Ich bin viel besser in meinem Job als du! Das kann hier jeder bestätigen! Und trotzdem hast du die Stelle hier bekommen! Ich kann dir auch genau sagen, warum: Weil du mit unfairen Mitteln spielst! Deinen Charme und dein Aussehen einsetzt! Deine Bettgeschichten haben dich dorthin gebracht, wo du jetzt bist – nicht dein Talent oder harte Arbeit.“ In einem traurigen und gleichzeitig fast schon resignierenden Ton fügt sie hinzu: „Du kommst einfach immer mit allem durch. Und trotzdem lieben dich alle. Das ist doch Irrsinn.“ – „Du findest mich also charmant und gut aussehend?“, erwidert ihr Henri grinsend? Marie rollt genervt ihre Augen.

„Sag mal, geht es dir eigentlich wirklich ausschließlich um das Wohl deiner Schwester und um den Chefposten, oder bist du vielleicht eifersüchtig, weil ich mich mit Lisa und nicht mit dir treffe?“, fragt Henri sie im ruhigen, aber ganz entschiedenem Ton. Marie versucht ihre Fassung zu wahren. „Henri, der Kuss ist schon fast zwei Jahre her! Es war Alkohol im Spiel. Sehr viel Alkohol! Und wir haben uns geschworen, nie wieder ein Wort darüber zu verlieren!“ Schweigen. „Okay, geh bitte wieder einfach an deine Arbeit. Ich beende mein Verhältnis mit Lisa noch heute, versprochen“, verkündet Henri ernst. Marie verlässt zögerlich das Büro. Er scheint es wirklich ehrlich zu meinen. Und doch zweifelt Marie noch, ob Henri das wirklich durchzieht.

Lisa

Lisa gießt ihre Balkonblumen. Die Lilien, Gladiolen und ein paar der Begonien sind schon relativ gut gewachsen. Sie hat eine Tagesdecke über sich gelegt, schließlich ist es Anfang April und noch ein wenig frisch. Glücklicherweise hat sie heute frei: Überstundenabbau.

Es ist seit Langem der erste Tag, an dem Lisa so richtig aufatmen kann. Der Kleine ist in der Kita, die zwei Großen in der Schule bei der Nachmittagsbetreuung. Ihr Mann Marc ist auf der Arbeit – das ist er aber ständig, seitdem sie das Kind verloren haben. Und wenn er denn mal zu Hause ist, dann streiten die beiden sich nur noch. Zum Beispiel darüber, dass er sie völlig mit ihrer Trauer um das Kind alleine lässt. Außerdem blockt er alle Intimitäten mit Lisa ab, kümmert sich nicht um den Haushalt und legt auch keinen allzu großen Wert mehr auf sein Äußeres.

Henri dagegen ist charmant, aufmerksam und dazu auch noch wahnsinnig gut aussehend. Und Lisa ist schließlich auch nur eine Frau mit Bedürfnissen. Dass mal was zwischen ihm und ihrer Schwester lief, das verdrängt sie. Schließlich war es nur ein Kuss und ist auch schon eine Weile her. Gestern Abend hat Lisa Marie sogar von der Affäre erzählt. Gefreut hat sich diese zwar nicht, aber dicht halten wird sie ganz sicher! Lisa hält schließlich auch dicht.

Lindas Smartphone klingelt. Sie freut sich, dass der Bildschirm „Ulrike“ anzeigt. So hat sie Henris Nummer abgespeichert, damit ihr Mann Marc keinen Verdacht schöpft. „Hey, Süßer“, haucht sie verführerisch in den Hörer. Henri spricht. „Wieso schlägst du den so einen ernsten Ton an?“, fragt Lisa irritiert. Henri spricht weiter. „Was?“, wimmert Lisa. Ihre Augen tränen. Sie schluchzt auf und sinkt aufs Sofa. Ihr Smartphone lässt sie langsam in ihrer Hand entlang ihres Körpers nach unten gleiten, bis sie es ganz loslässt. Lisa braucht eine ganze Weile, um sich zu sammeln. Dann hebt sie wieder ihr Handy auf und wählt Maries Festnetznummer.

Es klingelt …

Henri

Henri legt den Hörer auf. Gut, das wäre dann geschafft! Hoffentlich nimmt Linda es nicht so schwer … Er geht in seinem Büro auf und ab, versucht sich wieder zu sammeln, was ihm jedoch nicht gelingt. Wie soll er denn jetzt auch bitteschön weiterarbeiten, nach alldem, was heute alles passiert ist?

Dass Marie ihn heute so konfrontiert hat, das findet er insgeheim überaus nobel und mutig von ihr. Aber so ist sie eben: nobel, mutig, schön, intelligent und anmutig. Und wie gut sie heute wieder gerochen hat. Wie gerne hätte Henri sie eben an sich gerissen, sie voller Leidenschaft geküsst. Doch das geht nicht. Nicht heute. Nicht morgen. Niemals wieder. Dafür hat er viel zu viel Respekt vor Lars. Und vor dem, was Lars so alles über ihn weiß. Aber Marie ganz loszulassen, sie zu entlieben – das kann er nicht.

Henri setzt sich wieder an der Rechner, möchte seine Mails checken. Das Postfach ist voll mit wirklichen wichtigen Nachrichten von wirklich wichtigen Kunden, doch das ist im gerade völlig schnuppe. Wie anders wäre sein Leben wohl verlaufen, wenn er sich woanders beworben hätte und nicht bei der “Wortspielerei Fabrik”? Doch er wollte dorthin, wo Marie arbeitet. Recht schnell hat Henri dann aber begriffen, dass er als Chef viele Gründe finden könnte, mehr mit Marie zusammenarbeiten zu „müssen“. Das Problem war nur, dass Marie diesen Posten wollte und ausgezeichnete Arbeit leistete. Also hat er mit seiner Vorgängerin Elisabeth Bauscher geschlafen. Attraktiv fand er die Frau nicht. Alle seine Affären sind entweder strategisch oder dienen zur Betäubung seines Liebeskummers. Keine Frau kommt an Marie ran. Auch Lisa nicht. Mit ihr hat er sich eingelassen, weil sie Marie sehr ähnlich ist: die schlanke Figur, die großen Rehaugen, die Stimme. Aber Lisa ist jetzt sowieso Geschichte.

Lars ruft an.

Das Abendessen mit Lars

Als Marie am Abend nach Hause kommt, wird sie von einem gut gelaunten Lars mit einem leidenschaftlichen Kuss an der Tür begrüßt. Lars hat gekocht. Aber der Tisch ist für drei gedeckt. „Wir haben heute einen Überraschungsgast. Er müsste in etwa zehn Minuten hier sein“, verkündet er feierlich.

Zehn Minuten später steht Henri vor der Tür. Lars begrüßt ihn überschwänglich. Die Begrüßung zwischen Marie und Lars fällt dagegen steif und unbeholfen aus. Henri und Marie setzten sich gegenüber von Lars – so wünscht es sich der Koch.

Marie nimmt sich etwas Salat. Die Männer greifen beim Fleisch zu. „Übrigens: Ich weiß von eurem Kuss“, erwähnt Lars wie beiläufig. Marie erstarrt vor Schreck. Henri versucht sich zu erklären: „Lars, ich …“ Lars unterbricht: „Wisst ihr, ich habe so etwas schon geahnt. Zwei so attraktive Menschen, die müssen sich doch sicherlich gegenseitig interessant finden. Ich kann euch beruhigen. Ich vergebe euch.“ Marie und Henri sind sichtlich verwirrt.

Lars gießt sich seelenruhig Wein in sein Glas ein und spricht dann unbeirrt weiter: „Eine Sache wäre da allerdings noch: Henri, ich würde dich bitten, deinen Chefposten an Marie abzutreten. Dann erfährt auch niemand, wie du mit den Finanzen der Firma hantierst. Marie, nächste Woche fliege ich mit Lisa auf die Malediven. Dein neuer Posten wird uns das finanzieren. Marc glaubt, es sei eine Geschäftsreise. Ich bitte dich da um Verschwiegenheit und auch Nachsicht in Bezug auf unsere Ehe.“ Henri und Marie starren Lars fassungslos an. Lars erklärt: „Marie, als ich dich kennengelernt habe, war Lisa schon verheiratet. Ich wollte kein Ehebrecher sein, da habe ich eben dich genommen. Nun ja, Lisa und ich möchten nun gemeinsam ein kleines außereheliches Abenteuer wagen. Wie gesagt, ich bitte dich da um Nachsicht, weil ich mich sonst dazu gezwungen sehe, auf unseren Ehevertrag zurückzugreifen. Du weißt, ich bin ein ausgezeichneter Anwalt. Und jetzt entschuldigt mich bitte.“

Lars geht in die Garage und erhängt sich.